Über eine besondere Begegnung und das Schreiben in Einfacher Sprache
Kennen Sie das Gefühl: Eine Person ist Ihnen sehr vertraut, obwohl Sie sie noch nie getroffen haben? Das Gefühl hatte ich gerade. Ich hatte nämlich die Ehre, Philippe Pozzo di Borgo kennenzulernen. Sie wissen schon: Das ist der Mann, dessen besondere Geschichte im Buch "Ziemlich beste Freunde" zu lesen ist. Seit einem Unfall vor 20 Jahren ist er gelähmt. Die Buchverfilmung ist weltweit ein Kino-Hit.
Leicht lesbar für alle
Monsieur Pozzo di Borgo war in der letzten Zeit häufig bei mir zu Gast. Nicht persönlich natürlich. Sein Leben hat mich nur sehr beschäftigt. Denn ich habe sein Buch in Einfache Spracheübertragen - leicht lesbar für alle. Vor allem für Menschen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen haben.
Normal
Und plötzlich saß er da, in seinem Rollstuhl. Liebe, freundliche Augen. Ruhige, offene Ausstrahlung. Im Rahmen des Literaturfests lit.COLOGNE sprach er in Köln über sein Leben. Und darüber, wie wichtig Einfache Sprache ist. "Glauben Sie, dass Sie normal sind?", fragte er die anwesenden Journalisten und Gäste mit einem Lächeln. "Niemand ist normal. Jeder hat irgendeine Behinderung. Wem zufällig das Lesen schwerfällt, sollte trotzdem Bücher lesen können." So ist das!
Puzzelstücke
Das Vereinfachen von Philippes Buch war eine tolle Herausforderung. Wie immer beschlich mich am Anfang leichte Panik. Inzwischen kenne ich das. Vor mir lag ein schönes, nicht ganz einfaches großes: das originale Buch. Erzählungen über seine Kindheit, die Zeit nach dem Unfall und über sein heutiges Leben. Wie sollte ich aus diesem großen Puzzle ein kleineres machen? Welche Puzzlestückchen konnte ich zur Seite legen, ohne dass die Geschichte verloren geht?
Mut zum Weglassen
Denn "Einfache Sprache" bedeutet nicht nur, dass man schwierige Wörter weglässt. Wer nicht gut oder flüssig lesen kann, traut sich an 247 Seiten erst gar nicht heran. Ich brauchte viel Mut zum Weglassen. In der Buchverfilmung geht es vor allem um eine besondere Freundschaft: die zwischen Philippe und seinem untypischen Pfleger Abdel (im Film "Driss"). Diese Freundschaft ist auch die Grundlage für "Ziemlich beste Freunde in Einfacher Sprache". Denn sie zeigt, wie Philippe aus seiner Verzweiflung, seiner Traurigkeit und Einsamkeit herauskommt. Wie er trotz Lähmung seine Lebenslust wiederfindet.
Handwerk und Gefühl
Auch Zeitsprünge machen das Lesen für ungeübte Leser unnötig schwer. Also musste ich die Geschichte zeitlich ordnen. Danach kam das Schreiben. Dabei waren zwei Dinge wichtig: 1. die Regeln der Einfachen Sprache. Kurze Sätze, keine Redewendungen oder schwierigen Wörter. Waren sie unvermeidlich, musste ich sie in einer Wörterliste erklären. Und 2. die Stimme von Philippe. Wie konnte ich trotz Einfacher Sprache seinen eigenen Stil erhalten? Punkt 1 ist vor allem Handwerk und Erfahrung. Punkt 2 ist hauptsächlich Gefühl. Nach einer Weile sah ich vor mir, wie Philippe mir über sein Leben erzählt. Aus diesem Gefühl der Nähe heraus konnte ich den richtigen Stil finden. Seine Stimme sprechen lassen.
Gliederung
Ein Buch in Einfacher Sprache muss übersichtlich gegliedert sein: kurze Kapitel, viele Absätze. Je überschaubarer, desto besser. Die Schrift ist größer als in "normalen" Büchern. So wurden aus 247 Seiten 80.
Gemeinsames Ziel
Wie wichtig Bücher in Einfacher Sprache sind, können die Leser dieser Bücher noch besser beurteilen als ich. Denn ich habe das Glück, gut lesen zu können. Deshalb kann ich mir kaum vorstellen, was es bedeutet, sich ausgegrenzt zu fühlen, sich zu schämen, nicht mitreden zu können. Was viele vergessen: Nicht gut lesen können ist nicht das Gleiche wie dumm sein.
Als ich Monsieur Pozzo di Borgo mit "unserem" Buch auf dem Schoß sah, war ich stolz. Wie auch beim Übertragen in Einfache Sprache fühlte ich mich mit ihm verbunden. Wir haben nämlich ein gemeinsames Ziel: ALLEN Menschen den Spaß am Lesen ermöglichen. Denn nur was Spaß macht, macht man gerne und immer wieder. Und was man gerne macht, geht auch langsam immer besser.
Merci, Monsieur Pozzo di Borgo!
Linktipps:
"Ziemlich beste Freunde" in Einfacher Sprache kann man beim Spaß am Lesen Verlag bestellen
Leichte Sprache: Für mehr Verständnis. Ein Blogbeitrag von Heiko Kunert über die Entstehung von Texten in Leichter Sprache
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(Autor: Sonja Markowski)