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Nachwuchsproblem im Gehörlosensport lokal angehen

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Ein Hürdenläufer beim Start

In Neuss wird aktiv gegen das Nachwuchsproblem in der Gehörlosenleichtathletik vorgegangen: Guido Kluth hat bei der DJK Rheinkraft Neuss eine Gehörlosenabteilung gegründet - und will so alle Gehörlosen des Großraums Düsseldorf/Neuss/Köln näher zusammenbringen.

Am Abschlussabend der Deaflympics in Sofia erzählte mir Guido Kluth zum ersten Mal von dem Plan, in seinem Leichtathletikverein, der DJK Rheinkraft Neuss, eine Gehörlosenabteilung zu gründen. "Wenn das soweit kommt, wechsle ich zu dir", sagte ich beim Pizzaessen zu ihm. Ich hatte gerade mein 800-Meter-Finale hinter mir, und mir gefiel die Vorstellung, künftig in Schwarz-Gelb zu laufen.

Jetzt ist es soweit: Der Plan von Mehrkampf-Bundestrainer Kluth ist Realität geworden und die DJK Rheinkraft Neuss hat eine Gehörlosenabteilung. Für den begeisterten Sprinter war das nur der logische nächste Schritt: "Der Gehörlosensport hat ein Nachwuchsproblem. Das muss lokal angegangen werden. In Neuss gibt es keine Gehörlosenschule, die Kinder gehen nach Düsseldorf oder Krefeld. Die will ich jetzt zusammenbringen." Die größte Problematik sei, dass viele Gehörlose gar nicht wüssten, dass es Gehörlosenmeisterschaften gäbe.

Gehörlosennetzwerk aufbauen, um Schwerhörige und CI-Träger zu erreichen

So ging es mir auch vor zwei Jahren. Ich bin nicht gehörlos, aber hochgradig schwerhörig und deshalb auch startberechtigt, weil ich schlechter als 55 dB höre. Ich bin in eine Regelschulen gegangen, weil es keine Schule für Menschen mit Hörminderung in unserer Gegend gab. Erst mit 19 habe ich durch Zufall erfahren, dass ich bei den Gehörlosen startberechtigt wäre. Kein halbes Jahr später war ich bei der Jugend-Europameisterschaft dabei - und dann bei den Deaflympics. Das war klasse, denn so hatte ich die Möglichkeit, für Deutschland zu starten.

Dass ich kein Einzelfall bin, zeigen auch andere Beispiele aus der Nationalmannschaft: Alexander Bley hat im letzten Jahr sogar erst mit 23 davon erfahren. Er hat ein Hörimplantat, also ein CI. Weil niemand in seiner Gegend vom Gehörlosensport wusste, startete er bei den Meisterschaften des Deutschen Behindertensportverbandes außer Konkurrenz. "So, wie der Deutsche Gehörlosensportverband sich momentan nach außen darstellt, ist das problematisch. CI-Träger und Schwerhörige erfahren nicht, dass sie startberechtigt wären, weil sie nicht auf eine Regelschule gehen ", sagt Kluth.

Deshalb baut er ein Netzwerk in und um Neuss auf. Dank finanzieller Unterstützung der Aktion Mensch hat er eine studentische Hilfskraft, die Ärzte, Vereine und Schulen anschreibt, um die potenziellen Nachwuchssportler dort abzuholen. Aber auch ansonsten soll das Netzwerk die Gehörlosen in der Umgebung näher zusammenbringen, damit die Gehörlosenkultur weiterhin aufrechterhalten wird: "Vorrangig hoffe ich, dass wir dadurch Sportler finden. Aber wenn sonst jemandem geholfen wird, freue ich mich auch."

Integratives Training ist in Neuss nichts Neues

Mit Felicitas Merker hat Kluth gleich von Anfang an eine der erfolgreichsten deutschen Athletinnen in seinen Reihen. Sie kommt aus Grevenbroich, durch die räumliche Nähe trainierte sie vor den Saisonhöhepunkten sowieso schon immer bei Kluth. Im letzten Jahr kamen für einige Wochen die beiden anderen Siebenkämpferinnen aus München dann auch nach Neuss, um bei ihrem Bundestraining zu trainieren. Integratives Training, das Wirkung gezeigt hat, findet Guido Kluth: "Wir haben da ein Patensystem gehabt. Jede gehörlose Athletin hatte eine hörende Patin. Beide haben voneinander profitiert. Da ist dann auch der Wunsch einer eigenen Abteilung gereift."

Merker wurde anschließend Fünfte bei den Deaflympics. Für sie war schnell klar, dass sie das erste Mitglied in der neuen Abteilung sein will: "Er ist mein Mehrkampf-Bundestrainer, und jetzt kann ich endlich für ihn starten. Ich hoffe, dass die Zusammenarbeit noch besser wird."

Neben der DJK startet Merker wie jeder Gehörlose auch in einem hörenden Verein, bei ihr der TSV Bayer Dormagen. Dass in einem Gehörlosenverein dann auch Training stattfinden soll, ist bis heute nämlich eine Seltenheit. Normalerweise sind die Gehörlosenvereine für die Leichtathleten nämlich nur auf dem Papier wichtig, um bei Gehörlosenmeisterschaften starten zu dürfen. Kluth will in Zukunft ein regelmäßiges wöchentliches Training anbieten. Dabei betont er, dass er nicht anderen Gehörlosenvereinen die Sportler wegnehmen will: "Ein Wechsel muss Sinn machen. Viele der Nationalmannschaftsathleten gehen in Essen zur Gehörlosenschule. Die können auch hier zum Training vorbeikommen, wenn sie nicht im Verein sind."

Konzept kann schon erste Erfolge vorweisen

Vier Mitglieder hat er jetzt schon, drei davon sind in der Nationalmannschaft: Neben Felicitas Merker sind das noch Anna Matthaei und ich. Wir laufen beide 400 Meter und 800 Meter. Über das vierte Mitglied hat sich Guido Kluth aber besonders gefreut: Den erst achtjährigen Leo Fauser. "Das war lustig, denn auf einem Sportfest kam eine meiner Athletinnen und hat mich gefragt, ob ich den Jungen mit den Hörgeräten gesehen hätte. Sie hat sich seine Startnummer gemerkt. Dann habe ich nachgeschaut und mich bei seiner Mutter gemeldet. Die war sofort Feuer und Flamme - und hofft jetzt natürlich, dass Leo noch mehr Trainingspartner mit oder ohne CI bekommt."

Finanziell rechnet sich das Ganze für die DJK Rheinkraft Neuss nicht. Weil der Deutsche Gehörlosensportverband sieben Mitglieder zur Gründung vorschreibt, bezahlt der Verein sogar für sieben Leute Meldegebühr, obwohl es aktuell nur vier sind. Aber der Verein ist sich seiner sozialen Verantwortung bewusst, und Kluth hat schon konkrete Pläne: Ende März soll es zum ersten Treffen des Netzwerks kommen, am 9. Juni findet dann ein integratives Sportfest in Neuss statt. Und vielleicht hat er bis dahin ja schon neue Talente gesichtet, die dann in einigen Jahren mit der Nationalmannschaft Quartier in Neuss beziehen können.


Linktipps:
Die Gehörlosenabteilung der DJK Rheinkraft Neuss
Selbstbewusstsein durch Sport. Ein Blogbeitrag von Michael Herold über seine ganz eigenen Erfahrungen mit dem Thema Sport
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(Autor: Nico Feißt)


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