In Berlin organisiert ein Künstler jeden Monat eine Show, in der jeder auftreten kann, der will. Zwanzig Minuten Ruhm für jeden, der etwas zu sagen hat. Es ist ein Inklusionsprojekt für alle, nicht nur für Menschen mit Behinderung.
Rolands Künstlerrampe in Berlin an einem Montagabend. Es wird niemand geschont, und geschönt wird auch nichts: Auf der Bühne stehen, schlicht und schockierend, zwei nackte Menschen.
Es ist ein kleiner Raum, die Decke hängt tief, die Wände sind schwarz, rund 50 Zuschauer hocken auf der einen Seite des Raums eng beieinander auf Holzbänken, und auf der anderen Seite sind Roland Walter und Lisa Gaden. Er: Performer und Buchautor, von Geburt an spastisch gelähmt, 50 Jahre. Sie: ausgebildete Tänzerin, 25 Jahre.
Seit vergangenem Herbst findet die Künstlerrampe alle paar Wochen in der Hauptstadt statt, um unentdeckte Talente auf die Bühne zu bringen. "Aus eigenen Erfahrungen weiß ich, wie schwer es ist, als unbekannter Künstler die Chance zu bekommen aufzutreten. Und wer nicht die Möglichkeit hat, sich auf der Bühne auszuprobieren, kann seine Fähigkeiten kaum entfalten", erklärt Walter das Projekt. Er ist der Initiator der Künstlerrampe und auch selbst Künstler, wie an diesem Abend.
"Man sieht, dass er sich wohlfühlt"
Da ist er also auf der Bühne, ein völlig nackter Mann, der gelähmt ist. Und da ist eine völlig nackte Frau, die überhaupt nicht gelähmt ist. Aber sie bewegen sich fast einheitlich. Roland Walter dreht sich, windet die Arme, streckt die Beine aus, duckt den Kopf oder streckt den Hals weit durch. Lisa Gaden, zwei Meter neben ihm, konzentriert sich voll auf ihn, ahmt ihn nach und zeichnet dabei mit einem schwarzen Stift all die Bewegungen auf ihrer Haut nach.
Die Geschichte eines Körpers ist die Geschichte seiner Bewegungen? Wollen die beiden das damit sagen? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Es bleibt viel Raum für eigene Gedanken. Oder für Gedankenleere. Denn so ruhig, wie es in diesen Minuten ist, scheinen viele damit beschäftigt zu sein, überhaupt erst mal zu begreifen, was da auf der Bühne passiert.
Zuzusehen, wie sich ein Mann und eine Frau in diesem kleinen Raum in einem Hinterhof in Berlins szenigem Mitte-Bezirk ganz langsam, ungeniert und unbekleidet bewegen, das fühlt sich an, als sei man gerade nochmal fünf geworden. "Man spürt, dass das für ihn sehr gut ist, dass er sich damit wohlfühlt", wird im Anschluss eine junge Zuschauerin über den Auftritt von Roland Walter sagen. Aber auch: "Ich bin noch ein bisschen geschockt".
Das Interessante: Weil der ganze bloße Körper von Roland Walter zu sehen ist, sieht man in manchen Momenten seine Behinderung fast nicht. Das Tabu Nacktheit bricht das Tabu Behinderung. Es ist eindrucksvoller.
Die nächste Vorstellung beginnt. Eine junge Band kommt auf die Bühne. Lucie, die Sängerin, und ihre beiden Musikerkollegen Ricardo und Max. Sie spielen selbstkomponierte Stücke, leichter Gitarrenrock, der mal fröhlich, mal melancholisch, aber nie schwer klingt. Nach ihnen tritt ein weiterer Künstler auf. Er schiebt ein Fahrrad auf die Bühne und bringt einen Toaster mit, in dem er Brot toastet, bis es schwarz ist. Nebenbei lässt er Papierblätter fliegen, indem er sie über den Boden pustet. Schräg, absurd. Die Zuschauer lachen schallend.
Inklusion heißt: Niemand wird ausgeschlossen
Menschen mit und ohne Behinderung stehen hier nacheinander und gleichberechtigt auf der Bühne. Ein weiterer Tabu-Bruch an diesem Abend? Wo gibt es das denn - außerhalb von Bühnen, die speziell für Menschen mit Behinderung aus dem Boden gestemmt werden?
Peter Tiedeken hat darauf eine Antwort. Der Hamburger ist Musiker in der BandStation 17 und gerade dabei, seine Doktorarbeit über "Kunst und Inklusion" fertigzustellen. Ein Thema, mit dem sich wissenschaftlich fast niemand bisher befasst hat, und er sagt: "Solche Projekte gibt es schon viele. Aber nicht unbedingt dort, wo man sie vermutet."
In seiner Doktorarbeit untersucht er, wie und wo Inklusion im künstlerischen Bereich funktioniert. Inklusion definiert er dabei als einen Prozess, der niemanden ausschließt. "Es geht bei Inklusion und Kunst um künstlerische Projekte, wo es Platz für unterschiedliche Menschen gibt." Punkt. Das Wort "Behinderung" will er in diesem Zusammenhang gar nicht hören.
Wo es solche Projekte gibt, das hat Tiedeken für seine Doktorarbeit untersucht. "Viele gibt es zum Beispiel im Gemeinwesen", sagt er, "doch die Projekte dort arbeiten nicht mit dem Begriff Inklusion. Und es gibt sie in der experimentellen Kunstszene, wo es um Avantgarde geht. Und in der linken Szene. Dort werden Projekte geschaffen, in denen es nur um die künstlerische Identität geht."
Und es gibt sie in Berlins Mitte. "Die Künstlerrampe ist ein Inklusionsprojekt", sagt Roland Walter über seine Bühnenshow für unbekannte Künstler und fügt dann ganz im Sinne von Tiedekens Inklusionsbegriff an: "Da verliert das Wort ,Behinderung' an Bedeutung."
Und auch wenn es schon viele solcher Projekte gibt, sieht Roland Walter noch Potenzial zur Verbesserung: "Menschen mit Behinderung sollten mehr als Motor auftreten. Das bedeutet, auf sogenannte Nichtbehinderte zugehen, sie von der Idee begeistern und somit Inklusion zum Leben erwecken."
Linktipps:
Mehr Infos über Rolands Künstlerrampe in Berlin
Der Reiz des Andersseins. Ein Blogbeitrag von Ulrich Steilen über die inklusive Theater-, Musik- und Tanzproduktion "Verflüchtigung" beim Kölner Sommerblut Festival
"Alles für alle" - Station 17 auf Tour. Ein Blogbeitrag von Ulrich Steilen über ein Konzert der Hamburger Band Station 17 in Oberhausen
Carmina Burana - inklusiv und open air. Ein Blogbeitrag von Ulrich Steilen über ein Tanzprojekt mit 150 Tänzerinnen und Tänzern mit und ohne Behinderung
(Autor: Wiebke Schönherr)