Ist eine Frau gehörlos oder blind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie im Laufe ihres Lebens Gewalt erlebt, sei es psychische, körperliche oder sexualisierte Gewalt. Doppelt so hoch wie bei einer Frau ohne Behinderung. Martina Puschke und der Verein Weibernetz, den sie mit anderen Frauen 1998 in Kassel gegründet hat, wollen, dass sich etwas ändert.
Frau Puschke, Weibernetz ist ein Verein, der sich als bundesweite politische Interessenvertretung für Frauen mit Behinderung versteht. Welche Rolle spielt in Ihrer Arbeit der Einsatz für mehr Schutz vor Gewalt gegen Frauen mit Behinderung?
Martina Puschke: Es ist eines unserer Hauptthemen, seit vielen Jahren. 2011 kam endlich eine Studie heraus, die belegt, was wir lange wussten, nämlich dass Frauen mit Behinderung viel häufiger von Gewalt betroffen sind als Frauen, die keine Behinderung haben.
Diese Studie von 2011, die vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben wurde, gibt an, dass doppelt so viele Frauen mit Behinderung von körperlicher Gewalt betroffen sind als Frauen ohne Behinderung. Es sind zwischen 60 und 75 Prozent. Bei sexualisierter Gewalt ist die Gewalterfahrung sogar bis zu dreimal höher. Welche Erklärungen haben Sie dafür?
Sowohl Frauen mit Behinderungen in Einrichtungen als auch die, die in Haushalten leben, erleben Gewalt. Besonders gehörlose und blinde Frauen sind davon betroffen, auch schon in ihrer Kindheit. Zum Teil liegt das an der Überforderung der Eltern. Wobei man dazusagen muss, dass die Kindheiten der Befragten in dieser Studie schon einige Jahrzehnte zurückliegen, da die Frauen bei der Befragung schon lange Erwachsene waren. Heute hat sich in diesem Bereich vielleicht einiges gebessert.
Was die Gewalt in Einrichtungen angeht, da gibt es nur die üblichen Mutmaßungen. Es gibt dort eine hohe Abhängigkeit von Pflegern und anderem Personal, und diese Abhängigkeit geht oft einher mit Fremdbestimmung. Da kommt es oft zu Grenzüberschreitungen, die auch in Gewalt enden kann. Warum die sexualisierte Gewalt so viel höher ist gegenüber Frauen mit Behinderung, dafür haben wir noch keine richtige Erklärung. Außer, dass Frauen mit Behinderung vermeintlich leichtere Opfer sind. Diese Gewalt erleben sie vor allem in ihrem direkten Umfeld, also von ihren Männern oder den Vätern, Brüdern, dem Busfahrer, dem Pfleger.
Erleben auch Männer mit Behinderung mehr Gewalt?
Es gibt dazu eine kleine Studie des Bundessozialministeriums, für die aber nur Männer befragt wurden, die in Haushalten leben. Männer mit Behinderung erleben demnach auch mehr Gewalt als Männer ohne Behinderung, und zwar hauptsächlich körperliche und psychische Gewalt, weniger sexualisierte Gewalt.
Neben psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt wird auch von struktureller Gewalt gesprochen. Das ist Gewalt, die durch Institutionen entsteht, die bei Frauen mit Behinderung die Möglichkeit auf Selbstbestimmung einschränken, wie etwa in Pflegeeinrichtungen, in denen sie nicht alleine in einem Zimmer wohnen dürfen oder ihr Badezimmer nicht abschließen können. Kann gegen diese Art von Gewalt noch am ehesten vorgegangen werden?
Sie lässt sich sicher noch am leichtesten verringern, und zwar indem die Situation in den Einrichtungen verändert wird. Es müssen mehr abschließbare Zimmer bereitgestellt werden und mehr Einzelzimmer. Es muss mehr Selbstbestimmung eingeführt werden und eine größere Zahl von Beratungsangeboten geben. Außerdem wären Ombudsfrauen und Frauenbeauftragte in solchen Einrichtungen wichtig, weil die Frauen, die in solchen Einrichtungen leben, von ihren Erlebnissen eher den Mitbewohnerinnen als dem Personal erzählen.
Gibt es genug Hilfsangebote für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, und zwar solche die – sozusagen – sowohl die Hemm- als auch die Türschwelle niedrighalten?
Es fehlt ganz eindeutig an Hilfsangeboten. Nur etwa zehn Prozent der Frauennotrufe, der Frauenhäuser und anderer Beratungsstellen sind zugänglich, also umfassend barrierefrei. Es ist uns daher ein großes Anliegen, noch enger mit Frauenberatungsstellen zusammenzuarbeiten.
Sieht es beim Schutz vor Gewalt besser aus?
Es gibt viele Präventionsangebote für den Schutz vor Gewalt gegen Frauen mit Behinderung, etwa Selbstbehauptungstrainings oder Informationsmaterial. Aber es fehlt an der flächendeckenden Finanzierung. So werden Selbstbehauptungskurse kaum angeboten. Seit 2002 haben Frauen mit Behinderung sogar einen Rechtsanspruch auf solche Kurse im Rahmen des Reha-Sports, sofern sie ein Arzt verschreibt. Aber es gibt kaum Angebote dafür.
Was tun?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten neben der eben bereits genannten Finanzierung von Präventionsangeboten. Eine einheitliche, bundesweit gesteuerte Finanzierung von Frauenhäusern wäre zum Beispiel von Vorteil, nicht so eine regional unterschiedliche, wie es momentan der Fall ist. So könnte man für einheitliche Standards in der Barrierefreiheit sorgen. Außerdem müssen Frauenbeauftragte in Behinderten-Werkstätten gefördert werden. Aktuell gibt es da schon ein Förderprojekt, in dem Frauen mit Lernschwierigkeiten, die in Einrichtungen leben, zu Frauenbeauftragten ausgebildet werden. Es gibt also kleine Fortschritte.
Linktipps:
Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) – Frauen gegen Gewalt e.V.
Bundesweites Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 08000 – 116 016
(Wiebke Schönherr)