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Behinderung ausgeblendet

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Eine Menschenmenge vor einem Wegweise-Schild in einer Halle der Frankfurter Buchmesse

Die blinde Bloggerin Mirien Carvalho Rodrigues musste schon oft in ihrem Leben gegen Vorurteile anrennen. In ihrem Job als Dolmetscherin erlebt sie dagegen inzwischen viele Situationen, in denen ihre Behinderung kein Thema ist, sondern allein ihre berufliche Professionalität, Kompetenz und Verlässlichkeit geschätzt wird.

„Mirien, kann ich meinen Pass wohl im Hotel lassen?“ „Was sollte ich meinen Kindern aus Deutschland mitbringen?“ „Wie lange wird die Veranstaltung dauern?“

Sie fragen mich, denn ich bin ihre Dolmetscherin, und sie sind meine Kunden. Sie kennen sich in Deutschland nicht aus, sind aufgeregt vor ihrer Rede oder dem Geschäftsessen, haben bei mir ein Gefühl von Sicherheit, da ich ihre Sprache beherrsche.

Für mich sind derlei Situationen nie zur Normalität geworden. Noch immer fühlen sie sich wie kleine Wunder an, bilden sie doch einen krassen Gegensatz zu dem, was sich durch meine Kindheit in einer westfälischen Kleinstadt zog. Dort waren Begegnungen an der Tagesordnung, bei denen ich stocksteif neben den anderen stand, weil ich schon wusste, dass man wieder mit Eltern und Nachbarn über mich statt mit mir sprechen würde. Eine der wenigen Ausnahmen bildete eine Nachbarin, die mich im Alter von 16 noch immer fragte, was sie das zweijährige Kind gefragt hatte: Na? Wer bin ich?

Nach der Uhrzeit konnte man mich nicht fragen – die Uhr an meinem Handgelenk trug ich wohl nur als Deko; nicht einmal auf das Wetter sprach man mich an, denn ich konnte ja den blauen Himmel nicht sehen. Dann erstarrte regelmäßig alles in mir zu Eis, ich fühlte mich so leer, wie die anderen mich sahen.

Einsatz auf der Frankfurter Buchmesse

„Mirien, könntest du eine Veranstaltung mit einem der gefragtesten Autoren während der Buchmesse für mich übernehmen? Und da ist auch noch eine Anfrage für eine Live-Sendung am selben Abend.“ Mein Herz rast. Ich bin dabei. Brasilien ist Gastland bei der Frankfurter Buchmesse, und ich gehöre zum Dolmetscherteam. Lange vorher hatte ich mir gewünscht, ein aktiver Teil dieser kulturellen Großveranstaltung zu sein. Als dann von einem der Hauptorganisatoren das schlichte und unkomplizierte „Willkommen im Team“ aus dem Telefonhörer kam, war die Freude enorm. In diesem Moment dachte niemand an meine Blindheit. Der Anrufer brauchte noch eine qualifizierte Dolmetscherin, der er bedenkenlos auch bekanntere Autoren anvertrauen konnte, und ich war verfügbar, war geeignet und hatte große Lust zu dem Auftrag.

Während der gesamten Messe sammelte ich unendlich viele bereichernde Begegnungen, die mir heute noch Rückhalt geben, wenn ich wieder einmal gegen Vorurteile anrennen muss.

Da waren Schriftsteller, mit denen ich locker über Literatur, gesellschaftliche Probleme Brasiliens oder das Reisen plauderte, Menschen aus dem Publikum, die sich für meine Arbeit herzlich bedankten, und etliche hilfreiche Geister, die mir und meiner Assistenz auf der Messe immer wieder den Weg wiesen und mich herzlich begrüßten, wenn sie mich wiedererkannten. Einmal bot mir ein netter Techniker statt eines Standmikrophons ein Headset an. Er meinte, ich müsste dann nicht ständig nach dem Mikrophon tasten. Gut mitgedacht, vielen Dank! Auch das ging einfach so, ganz natürlich, ohne dass er sich anschließend für seine gute Tat des Tages auf die Schulter geklopft hat.

Vertrauen in Professionalität

Solche Erlebnisse sind weit mehr als berufliche Erfolge und nette Begegnungen, wenn man wie ich gegen so viele Mauern anrennen und auch höchst unerfreuliche Begegnungen verdauen musste, die mein Selbstwertgefühl ganz schön herausfordern. Einmal fragte mich während des Studiums etwa eine Kommilitonin: „Warum machst du das alles überhaupt? Du findest doch garantiert nie Arbeit.“

Doch irgendwann kam Milton, der erste Kunde aus der freien Wirtschaft. Ich nahm die Herausforderung an und erwähnte meine Behinderung erst, als sämtliche Konditionen vereinbart waren. Schließlich musste er wissen, dass ich eine Assistenzperson mitbringen würde. Würde der Kunde einen Rückzieher machen, wie es mir so mancher in meinem Umfeld ungefragt prophezeite? Er machte keinen. Er reiste an, wir begrüßten uns, führten ein ausführliches Vorgespräch. Ich erledigte meine Arbeit für ihn und bekam dafür sein vollstes Vertrauen. Die Themen beim abschließenden Abendessen richteten sich ganz nach den Interessen des Kunden, sie reichten von Immobilienpreisen bis zum neuesten ICE-Modell. Milton stellte nicht eine Frage zu meiner Blindheit. Ich erinnere mich, das zunächst befremdlich gefunden zu haben, so sehr war ich es gewohnt, auf dieses Thema beschränkt zu werden. Doch nichts – keine Bewunderung dafür, dass ich trotz alledem diesen Beruf ausübte, keine Fragen nach meinem Braille-Notizgerät, keine Indiskretionen über meine Fähigkeit, allein zu leben. Stattdessen Vertrauen in meine Professionalität, Kompetenz und Verlässlichkeit, und ehrlicher Dank für eine souveräne Begleitung, die dem aufgeregten Geschäftsmann und Familienvater Sicherheit in einem fremden Land gegeben hatte.

Eine Wohltat für beide Seiten.

 

Linktipps:

Schulbesuche mit dem Blindenführhund. Blogbeitrag von Mirien Carvalho Rodrigues über die Unbefangenheit bei ihren Begegnungen mit Kindern

Tanzende Herzen. Mareice Kaiser und Anastasia Umrik über ihre erste Begegnung – aus ihrer jeweiligen Perspektive

Auf einen Abend in der Sushi-Bar. Blogbeitrag von Wiebke Schönherr über ein Treffen von drei besten Freundinnen – von denen eine Rollstuhl fährt

(Mirien Carvalho Rodrigues)


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