Quantcast
Channel: Aktion Mensch-Blog
Viewing all articles
Browse latest Browse all 790

"Die merken nichts"

$
0
0

Dinah Radtke sitzt an einem Tisch und hält in beiden Händen ein Mikro. Sie lacht.

Das inklusive Filmfestival "überall dabei" gastiert vom 17. bis zum 27. Februar in der mittelfränkischen Stadt Erlangen. Mit Dinah Radtke hat Erlangen eine beeindruckende Frau als Schirmherrin für das Festival gewinnen können. Dinah Radtke ist seit Jahren aktiv in der Behindertenbewegung tätig und Mitbegründerin des Dachverbandes "Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.". Auch international setzt sie sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein. Bei "Disabled Peoples' International (DPI)" ist sie Mitglied im Weltrat, war viele Jahre Vizepräsidentin der Organisation und ist Vorsitzende des DPI Frauenkomitees. Und sie beteiligte sich aktiv an Sitzungen der Vereinten Nationen zur Schaffung der Behindertenrechtskonvention in New York. Ich hatte Gelegenheit mit ihr über ihre Arbeit, das Filmfestival und die kulturellen Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu sprechen.


Frau Radtke, welche Bedeutung hat ein inklusives, barrierefreies Filmfestival wie "überall dabei" für die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung?

Vor 15 oder 20 Jahren haben die Leute zu mir gesagt: "Warum kämpfen Sie für Menschen mit Behinderung in Bussen und öffentlichen Verkehrsmitteln? Ich sehe nie Behinderte in Bussen." "Ja klar", habe ich geantwortet, "weil wir nicht reinkommen." Und genauso ist es noch heute bei kulturellen und anderen öffentlichen Veranstaltungen. Man sieht dort nie schwerhörige Menschen oder Menschen mit Lernbehinderung, weil eben niemand da ist, der ihnen die Veranstaltung zugänglich macht. Da muss noch ganz viel Bewusstseinsarbeit geleistet werden, damit die Leute überhaupt merken, woran es fehlt. Die merken das in ihrem alltäglichen Leben nämlich gar nicht. Das Filmfestival "überall dabei" leistet diese Arbeit und ist ein Vorbild in Sachen Barrierefreiheit und kultureller Teilhabe.

Sie sind Mitglied im Weltrat bei Disabled Peoples' International und Vorsitzende des DPI Frauenkomitees. Welche Aufgaben hat der DPI und was machen Sie dort?

Der DPI ist eine Menschenrechtsorganisation und tritt dafür ein, die Rechte von Menschen mit Behinderung weltweit umzusetzen. Wir haben über 140 Mitgliedsländer und waren maßgeblich an der Ausarbeitung der UN-Behindertenrechtskonvention in New York beteiligt.
Ich selbst habe daran mitgewirkt, den Artikel sechs, in dem es um Frauen mit Behinderung geht, in die BRK einzubringen. Eigentlich sollte ursprünglich kein eigener "Frauenartikel" in die Konvention aufgenommen werden. Aber wir haben es geschafft.
Und meine Aufgabe als Vorsitzende des DPI Frauenkomitees ist es, unsere Projekt in die sogenannten Entwicklungsländer zu bringen. Das sind Empowerment-Projekte und Trainingsprojekte für Frauen, die ihnen zum Beispiel dabei helfen, ein eigenes Einkommen zu erzielen. Aber auch Projekte im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt sowie HIV und Aids.

Bei "überall dabei" geht es in besonderem Maße um die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Hat dieses Thema bei der Ausarbeitung der UN-Konvention auch eine Rolle gespielt?
Ja natürlich! Die kulturelle Teilhabe ist immer noch ein großes Problem. Deshalb ist sie auch als ein Aspekt in die BRK, in Artikel 30, aufgenommen worden. Selbst wenn man bei Kulturveranstaltungen barrierefrei hineinkommt, dann gibt es trotzdem meist keine Gebärdendolmetscher oder keine Induktionsschleifen für Menschen mit Hörbehinderung - um nur ein Beispiel zu nennen. Es ist noch lange nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit und von Kulturveranstaltern angekommen, dass es eben verschiedene Voraussetzungen braucht, damit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gleichberechtigt an kulturellen Veranstaltungen teilhaben können.

Die BRK ist in Deutschland seit 2009 gültiges Recht. Barrierefreiheit und kulturelle Teilhabe sind darin als Rechte verbrieft. Müssten der Staat, die Länder und die Kommunen nicht viel stärker in die Pflicht genommen werden, um auch bei kulturellen Veranstaltungen für Barrierefreiheit zu sorgen?

Selbstverständlich. Der Gesetzgeber müsste Gesetze und Richtlinien schaffen, damit notwendige Maßnahmen der Barrierefreiheit gezahlt werden. Dann müssten wir auch nicht mehr, wie gegenwärtig, Sponsoren hinterherlaufen, die einen Gebärdendolmetscher oder anderes finanzieren. Bislang gibt es diese Richtlinien kaum. Die Betroffenen werden allein gelassen. Sich als einzelne Frau oder einzelner Mann mit seinen Ansprüchen durchzusetzen, ist sehr beschwerlich. Das erfordert sehr viel Kraft und Nerven, und die haben halt viele nicht.

In der Vergangenheit waren Menschen mit Behinderung im Film extrem unterrepräsentiert. Glauben Sie, dass sich das momentan ändert?

Meiner Beobachtung nach gibt es in letzter Zeit eine ganze Reihe von interessanten Filmen, die verschiedene Behinderungen thematisieren und dem Publikum nahe bringen. Ich denke an Filme wie "Vincent will Meer", "Ziemlich beste Freunde" oder auch "The Sessions"*. Ich halte das für eine sehr gute Entwicklung, denn das trägt stark zum Verständnis von Menschen mit Behinderung bei.

Welche Filme schauen Sie sich bei "überall dabei" im Kino an?

Das Filmfestival bespielt eine große Bandbreite an Themen. Die Auswahl der Filme gefällt mir insgesamt sehr gut. Als Schirmherrin des Festivals in Erlangen werde ich nicht nur an der Eröffnung teilnehmen, sondern auch als Gesprächsteilnehmerin dabei sein, bei den Filmen "Mensch 2.0 - Die Evolution in unserer Hand" sowie "Rachels Weg. Aus dem Leben einer Sexarbeiterin".

Dinah Radtke ist die Leiterin der Beratungsstelle des Zentrums für selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V. in Erlangen. Das Besondere an der Beratungsstelle ist, dass hier nur Menschen mit Behinderung nach dem Peer-Counseling-Prinzip beraten werden. Das heißt, die Beratung erfolgt von Menschen, die selbst eine Behinderung haben. Dinah Radtke ist aufgrund einer Spinalen Muskelatrophie (SMA), auch als Muskelschwund bezeichnet, seit vielen Jahren Rollstuhlfahrerin.

* "The Sessions" von Regisseur Ben Lewin beruht auf dem Leben des US-Schriftstellers Mark O'Brian, der aufgrund einer Polio-Erkrankung bis zum Hals gelähmt und auf eine eiserne Lunge angewiesen ist. Mit 38 Jahren beschließt er, seine Jungfräulichkeit zu verlieren.
www.thesessionsmovie.com

(Autor: Ulrich Steilen)


Viewing all articles
Browse latest Browse all 790