Im Theater Bielefeld können blinde und sehbehinderte Menschen das Bühnenbild erfühlen, bei Führungen Kostüme und Perücken anprobieren und mit Audiobeschreibungen Musiktheater miterleben.
Hände streichen über den Sitzbezug eines antiken Stuhls und gleiten dann die gedrechselte Lehne hinauf. Später betasten sie nicht nur das Bücherregal hinter dem Stuhl, sondern auch die Bücher darin. Stück für Stück erfühlen sich die blinden und sehbehinderten Besucher des Theaters Bielefeld das Bühnenbild: gehen Maße ab und Treppen hoch, steigen auf Podeste. Eine Mitarbeiterin des Theaters begleitet sie und beschreibt dazu die Bühne. Hin und wieder gibt sie ihnen auch Requisiten in die Hände, die im späteren Stück eine Rolle spielen werden.
Einzigartig in Deutschland
Die Bühnenbegehungen für blinde und sehbehinderte Menschen bietet das Theater Bielefeld seit letztem Jahr an. "Ich glaube nicht, dass es in Deutschland ein anderes Theater gibt, das so ein umfassendes Angebot für Blinde und Sehbehinderte hat", sagt Stefanie Schröder, Vertriebsreferentin am Theater. Sie kümmert sich im Haus um das Thema Inklusion und arbeitet eng mit dem Behindertenbeirat der Stadt zusammen. Der inspirierte das Theater 2009 dazu, neben barrierefreien Sitzplätzen Musiktheater für blinde und sehbehinderte Menschen anzubieten.
Kommentar im Ohr
Seitdem können sie bei Opern, Operetten und Musicalsüber Kopfhörer hören, was auf der Bühne geschieht. Dann sitzt ein Dramaturg in einer Kabine neben der Bühne und beschreibt das Geschehen live. "Das ist ähnlich wie bei Hörfilmen", sagt Stefanie Schröder, "nur emotionaler". Der Kommentar wird über die Musik gesprochen. Für wahre Opernfans sei das allerdings nicht schön. "Die können sich auch ausklinken, in Ruhe die Arie hören und später wieder lauter drehen." Dreizehn solcher Geräte gibt es im Haus. Sie sind oft ausgebucht und werden nur für Musikstücke benutzt.
Bei Schauspielstücken ist kein Kommentar nötig, da ohnehin viel gesprochen wird. "Es eignet sich aber nicht jedes Stück", sagt Schröder. "Wenn Schauspieler mehrere Rollen spielen und sich nur über die Optik unterscheiden, dann hat das keinen Sinn." Zehn Musik- und zehn Schauspielstücke bot das Theater in der letzten Saison für blinde und sehbehinderte Menschen an - zu speziellen Terminen, schließlich müssen Kommentator oder Mitarbeiter für die Bühnenbegehung vor Ort sein. Das Feedback sei toll, sagt Schröder, manche Besucher reisten sogar von 60 Kilometer Entfernung an.
Anfassen, riechen, hören
Bevor die Besucher das Bühnenbild erkunden, bekommen sie außerdem eine Einführung in das Schauspielstück, das sie danach besuchen werden. Die Kostüme werden beschrieben, samt Farbe, Stoff und Stil. Außerdem erfahren sie vorab einige Dinge, die für das Verständnis wichtig sind. "Wenn im Stück ein Schuss fällt, dann sagen wir das vorher, so dass die Leute sich nicht erschrecken", sagt Stefanie Schröder. "Oder wir erklären wichtige Szenen, die ohne Text sind." Die blinden und sehbehinderten Gäste nehmen dann samt Begleitung in der ersten Reihe Platz. "So können sie alles besser mitbekommen", sagt Schröder. Geräusche hören, Dinge riechen.
Ganz besondere Führungen
Die Führungen durchs Haus mit Blicken hinter die Kulissen, in die Werkstätten und den Kostümfundus sind ein Publikumsmagnet. Seit kurzem werden auch die für blinde und sehbehinderte Besucher angeboten. Da würden sich ihre Kollegen ganz besondere Mühe geben, erzählt Schröder, und holten Dinge hervor, die besonders schön anzufassen sind. "Die Leute dürfen auch einige Kostüme anprobieren und Hüte und Perücken aufsetzen." Das sei aber eine Ausnahme. Bei Führungen für sehende Menschen gebe es das nicht.
Linktipps:
Führungen für blinde und sehbehinderte Besucher im Theater Bielefeld
Audiodeskription: Inklusion im Theater. Ein Blogbeitrag von Heiko Kunert über Möglichkeiten der Barrierefreiheit im Kulturbetrieb
Der blaue Engel wird greifbar. Ein Blogbeitrag von Ulrich Steilen über barrierefreie Führungen in der Deutschen Kinemathek in Berlin
Städte zum Ertasten. Ein Interview im Blog von Stefanie Wulff mit Egbert Broerken, der Stadtmodelle aus Bronze für blinde Menschen baut
Kunst für alle: Auch Hände können sehen. Ein Blogbeitrag von Heiko Kunert über die barrierefreien Ausstellungen des Künstlers Horst W. Müller
Street Art zum Anfassen. Ein Blogbeitrag von Stefanie Wulff über "Brailletags", ein haptisches Graffiti der anderen Art
(Autor: Katja Hanke)