Ein bisschen still und schüchtern, vielleicht auch etwas seltsam. Aber ansonsten nicht weiter auffällig. Wenn Mädchen das Asperger-Syndrom haben, wird das häufig erst spät erkannt. Dr. Christine Preißmann, Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, lebt selbst mit dem Asperger-Syndrom, hält darüber Vorträge und hat ein neues Buch zum Thema geschrieben: "Überraschend anders - Mädchen und Frauen mit Asperger". Im Gespräch erklärt sie, was so "anders" ist an der weiblichen Variante des Asperger-Syndroms.
Bevor wir auf die Unterschiede bei Mädchen und Jungen eingehen, wäre es freundlich, wenn Sie erläutern könnten, was das Asperger-Syndrom allgemein ist.
Preißmann: Asperger ist eine Form der Störungen aus dem autistischen Spektrum. Die Bandbreite der Störungen ist sehr groß. Sie reicht von schweren Formen des frühkindlichen Autismus bis zum fließenden Übergang zur sogenannten Normalität, wo das Asperger-Syndrom anzusiedeln ist. Obwohl Asperger die vermeintlich leichtere Variante ist, sind die Schwierigkeiten für Betroffene, mit der Normalität umgehen zu können, sehr hoch. Es fällt ihnen schwer, mit Menschen verbal und non-verbal Kontakt aufzunehmen. Vielen ist nicht klar, über was sie mit anderen reden sollen, Sprichwörter und Redewendungen werden nicht verstanden. Als eine Kollegin von mir einmal sagte "Ich könnte in die Luft gehen!", habe ich gedacht, sie spricht von einer anstehenden Urlaubsreise, dabei hatte sie sich über etwas geärgert. Alltagsregeln werden geradezu zwanghaft befolgt, denn sie sind eine wichtige Stütze im Alltag. Unstrukturierte Zeiten wie Pausen oder Ausflüge dagegen sind schwierig. Insgesamt fällt es Menschen mit Asperger-Syndrom oft leichter, mit anspruchsvollen fachlichen Anforderungen umzugehen, statt mit vermeintlich leichten sozialen Interaktionen. Das wirkt dann auf Außenstehende befremdlich.
Was unterscheidet Mädchen von Jungen mit dieser Störung?
Preißmann: Oft entwickeln die betroffenen Menschen Spezialinteressen, die sie intensiv verfolgen. Bei Jungs und Männern muten sie teilweise merkwürdig an. Ich kenne zum Beispiel viele mit einem ausgeprägten Spezialinteresse an Strommasten oder Klospülungen. Auch Mädchen und Frauen haben Spezialinteressen, die sie mit ungewöhnlicher Intensität verfolgen. Allerdings unterschieden sie sich oft nicht von denen der "normalen" Mädchen, z. B. Pferde und Tiere, Bücher und Fantasy-Romane.
Insgesamt kann man sagen, dass sich die Medizin in allen Bereichen mehr für Unterschiede im Hinblick auf die Geschlechter öffnet. Trotzdem wird das Asperger-Syndrom bei Mädchen häufig erst im Jugend- oder Erwachsenenalter festgestellt. Während Jungs als "Störenfriede" mit teils aggressivem Verhalten schon früher auffallen, entsprechen Mädchen, die nicht stören, sondern still in der Ecke sitzen, eher dem gesellschaftlichen Rollenbild. Das ändert sich meist auf der weiterführenden Schule. Während die stillen Mädchen in der Grundschule eher von Gleichaltrigen "bemuttert" werden, beginnt im Jugendalter oft das Mobbing. Vor allem, wenn jugendliche Mädchen nicht mitreden bei typischen Themen wie Mode, Schmuck, Musik oder Jungs und stattdessen bei speziellen Themen und Vorlieben aus der Kindheit verharren.
Wenn die Diagnose endlich doch gestellt ist - welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es?
Preißmann: Zunächst einmal sind die Betroffenen sehr erleichtert, weil sie endlich wissen, warum sie so "anders" sind. Dann gibt es Möglichkeiten der Einzel- und Gruppenförderung. Es existieren viele sehr gute Autismus-Therapiezentren in Deutschland, doch leider gibt es lange Wartelisten. Wichtig ist es, in der Gruppe soziale Kompetenzen zu trainieren, z. B.: Wie führt man Gespräche, wie verabredet man sich, wie verhält man sich beim Essen gehen? Begleitend ist eine Psycho- und Ergotherapie häufig ratsam. Man muss sich jede Einzelne genau anschauen. Auch in Selbsthilfegruppen mit anderen Frauen haben Betroffene gute Erfahrungen gemacht, etwa wenn es um den Austausch zu Themen wie Partnerschaft, Kinderwunsch oder die Frage "Was ist typisch weiblich?" geht.
Sie leben ja selbst mit dem Asperger-Syndrom. Wann wurde es bei Ihnen entdeckt?
Preißmann: Gegen Ende meines Studiums, da war ich schon Mitte 20. Alle anderen Studenten hatten Freunde und teils Partner, nur ich nicht. Ich wünschte es mir zwar sehr, wusste aber nicht, wie ich Kontakt aufnehmen konnte. Ich hatte großes Glück, dass ich zu einer Psychotherapeutin kam, die sich mit dem Thema auskannte, und so begann ich, Unterstützung zu erfahren.
Beim Thema Inklusion geht es ja darum, dass jeder Mensch die Möglichkeit erhalten soll, sich gleichberechtigt an der Gesellschaft zu beteiligen. Was muss sich - abgesehen von den richtigen therapeutischen Angeboten - ändern, damit Menschen mit Asperger-Syndrom gesellschaftliche Inklusion erleben können?
Preißmann: In vielen Bereichen tut sich ja bereits etwas. Ich persönlich halte mich zum Beispiel gerne in Künstlervierteln auf, weil ich dort das Gefühl habe, dass ein buntes Miteinander möglich ist und von allen als schön und bereichernd empfunden wird. Insgesamt würde ich mir wünschen, dass man sich die Mühe macht, provozierendes Verhalten zu hinterfragen. Oft stecken einfach Missverständnisse dahinter, die man leicht aufklären könnte. Wir sind liebe Menschen, auch wenn wir mit unserem Verhalten andere immer wieder herausfordern. Mir selbst tun diese Missverständnisse immer wahnsinnig leid.
Christine Preißmann: Überraschend anders: Mädchen & Frauen mit Asperger. Trias Verlag 2013, 19,99 Euro
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(Autor: Stefanie Wulff)