Berlin-Spandau, Mittwoch 17 Uhr im Café Paule. Längst sind alle Stühle am großen runden Tisch besetzt, Kaffee und Saftschorlen bestellt, jeder hat sein Buch aufgeschlagen. Stefan, Ende 50, der in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung arbeitet, steht schon in den Startlöchern. Auf ein Signal von Doreen hin, die die Gruppe zusammen mit ihrer Kollegin Mirka von der örtlichen Lebenshilfe aus koordiniert, fängt Stefan an, aus dem Buch „Kick It Like Beckham“ vorzulesen. Nach drei Seiten ist Monika dran. Die Rentnerin mit den roten Locken trägt formvollendet die nächsten Passagen vor und übergibt danach das Staffelholz an Uta und ihre 18-jährige Tochter Mayubi. Sie hat das Down-Syndrom und kann Wörter nur schwer erkennen. Ihre Mutter liest jeweils ein Wort und zeigt darauf, Mayubi spricht ihr nach. Danach ist Virginia dran. Die 30-Jährige konnte aufgrund einer Lernschwäche bis vor wenigen Jahren kaum lesen. Durch die Mittwochs-Treffen hat sie das Lesen für sich entdeckt und vertieft sich nun jeden Abend in eines ihrer Märchenbücher. Den Schluss der Runde bildet Joe, Anfang 60, der als freier Unterhaltungskünstler arbeitet.
Die meisten Bücher sind in Einfacher Sprache verfasst
Uta, die neben Monika und Joe eine der ehrenamtlichen „Mitleser“ ist und die Treffen moderiert, erklärt den weiteren Ablauf: „Am Ende sprechen wir gemeinsam darüber, worum es in dem Buch geht, was jemand nicht verstanden oder ihm besonders gut gefallen hat.“ Die meisten Bücher, die die Gruppe liest, sind in Einfacher Sprache verfasst. Da es bisher nur wenige solcher Bücher gibt, überträgt Doreen die Texte oft selbst.
Das, was jeden Mittwoch im Café Paule stattfindet, ist inzwischen in vielen deutschen Städten unter dem Namen LEA-Leseklub bekannt. Das Prinzip: 6-10 Personen mit und ohne Behinderung und mit ganz unterschiedlichen Lese-Fähigkeiten treffen sich einmal in der Woche, um gemeinsam zu lesen. Zwei ehrenamtliche Mitleser unterstützen dabei. Alle kommen aus Spaß am Lesen, einige, weil sie besser lesen lernen wollen, andere, weil sie gerne unter Menschen sind.
Die Idee, die aus den USA kommt, holte der KuBus e.V. zunächst nach Köln. Dann fanden sich immer mehr Freiwillige auch in anderen Städten, die lesefreudige Menschen zusammenbringen wollten.
Jeder soll sehen, dass auch Menschen mit Behinderung lesen
Inzwischen gibt es LEA-Leseklubs in rund 40 Städten. Dass die Treffen stets an öffentlichen Orten stattfinden, ist Teil des Konzepts. Jeder soll sehen, dass auch Menschen mit Behinderung lesen und sich für Literatur interessieren.
Monika, die Älteste in der Runde, hatte schon als Jugendliche einem blinden Ehepaar aus der Zeitung vorgelesen und damit ihr Taschengeld aufgebessert. „Ich hatte mir immer vorgenommen, im Ruhestand daran anzuknüpfen“, erinnert sie sich. Etwas Besseres als der LEA-Leseklub hätte ihr nicht passieren können.
Wer Interesse hat, sich einem LEA-Leseklub anzuschließen oder selbst einen zu gründen, findet alle Infos unter: www.kubus-ev.de/LEA-leseklub.
Weitere Möglichkeiten zum Engagement für das Lesen gibt es in der Freiwilligendatenbank.
(Henrik Flor)