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Das große Schweigen: One Night Stands im Rollstuhl

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Eine Betonwand mit einem Graffiti, auf dem zwei Rollstühle abgebildet sind, einer davon ist umgekippt, davor ein eng umschlungenes Paar auf dem Boden liegend

Google weiß nicht nur alles, noch besser ist eigentlich, dass Google immer jemanden auf der Welt kennt, der genau das gleiche Problem hat wie man selbst. Aber umso einsamer fühlte ich mich, als mir Google eines Abends niemanden zeigen konnte, der die gleichen Fragen hat wie ich.

Wenn man das Wort One Night Stand in Google eingibt, erhält man Millionen von Treffern und gleich auf der ersten Seite mindestens 50 Regeln, die man dabei unbedingt beachten sollte. Man könnte jetzt darüber streiten, ob man die wirklich alle braucht, aber es scheint also zumindest ein Thema zu sein, zu dem es ziemlich viel zu sagen gibt.

Fügt man zu seiner Suchanfrage aber das Wort „Rollstuhlfahrer“ hinzu, gibt es plötzlich nur noch knapp 200.000 Treffer. Na gut, das lässt sich noch damit erklären, dass man seine Suche nun eindeutig auf die deutsche Sprache und eine bestimmte Zielgruppe eingrenzt hat. So richtig ernüchternd wird es aber, wenn man erkennt, dass sich nur ganze drei Beiträge überhaupt irgendwie mit dem Thema auseinandersetzen, während alle anderen auf andere Themen rund um Behinderungen ausweichen.

Keine Tipps, keine Erfahrungen 

Der aktuellste Beitrag ist eine Forumsdiskussion, die mehr als drei Jahre alt ist und sich um die Frage dreht, ob es für nicht behinderte Menschen moralisch in Ordnung ist, mit Menschen mit Behinderung Sex zu haben. Das ist alles, was man findet.

Keine Tipps, keine Regeln, keine Erfahrungen von anderen Menschen im Rollstuhl.

Heißt das also gleichzeitig, dass Menschen im Rollstuhl keine One Night Stands haben? Für die meisten Menschen ohne Behinderung wahrscheinlich eine durchaus realistische Vorstellung. Aber die Wahrheit ist, auch mit Rollstuhl ergeben sich immer wieder Gelegenheiten, und es würden sich sicher noch mehr Gelegenheiten ergeben, wenn wir uns endlich darüber austauschen würden.

Diese Antworten gibt es in keiner Zeitschrift

Das große Schweigen verunsichert, egal wie aufgeschlossen man selbst eigentlich ist. Früher oder später kommen die Zweifel: Bin ich für den anderen vielleicht nur ein Fetisch? Ist das nicht doch irgendwie alles zu gefährlich? Wie organisiere ich das mit der Assistenz drum herum? Die Antworten auf diese Fragen gibt es in keiner Zeitschrift oder keinem anderen Ratgeber. Das mag vielleicht nicht weiter verwunderlich sein, aber dass nicht mal Google Antworten darauf hat, ist schon ein bisschen schockierend. Wir sind schließlich schon längst die Generation, die sich für den Gipfel der Aufgeklärtheit und der Tabulosigkeit hält.

Mag sein, dass ich viel verlange, schließlich müssen sich viele Menschen noch überhaupt an den Gedanken gewöhnen, dass Menschen mit Behinderung durchaus Sex haben. Dass dies aber nicht nur innerhalb einer Beziehung möglich ist, wird in den meisten Überlegungen konsequent ausgeblendet. Umso wichtiger ist es, dass wir selbst anfangen, darüber zu reden, um Erfahrungen und Antworten zu sammeln. Schließlich ist es am Ende doch bei allen Menschen wieder gleich: Man bereut irgendwann am meisten die Dinge, die man sich nicht getraut hat.

 

Linktipps:

Mehr zum Thema Sexualität und Behinderung beim Familienratgeber

Behinderung und Sexualität: Noch immer ein Tabu. Heiko Kunert über Behinderungen von Sexualität

Sex and the wheelchair. Petra Strack über die Sexualität von Frauen mit Behinderung

Knutschen wie im Kino. Raúl Krauthausen über Berührungsängste beim Thema Beziehung, Partnerschaft, Sex und Behinderungen

(Tanja Kollodzieyski)


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